Reading Wallace as a legal intern, or: Being half as smart as a moose makes you a muffin

Art & Writing

So, it turns out that reading David Foster Wallace kind of inflicted permanent damage to my brain. What I mean to say is that writing German is an elusive task for me since reading Wallace. Writing German I sound, well, I guess, cultured. Professional. Well phrased. Boring. Writing German is something I do every day, as I do it for a living, but which I do not half as well as I would could I use my other language for my legal briefs. I´d be brillant. If I could only write my briefs in English.

I write: „my“ other language, because though I feel I am represented extremely well by what I write in English, I also realize that I am not even close to being a fluent writer in English, and thus being extremely well represented by what I write in English also means that I am extremely well…

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Lauftagebuch November

Die Schönheit des Knochens. Novembertage. Die Bäume sind jetzt fast laublos, nur vereinzelt hängen dunkelgraue Blätter wie Fledermäuse in den Zweigen. Der Himmel ist wie Papier, ausgelegt auf einer leuchtenden Fläche und bemalt mit kalligraphischen Zeichen. Eine Sinfonie des Wachsens in klarer Abstraktion, jeder Ast, jede Verzweigung in Harmonie mit dem Ganzen spricht über sich selbst, spricht über die Notwendigkeit der Richtung, des Soseins, jedes Zeichen rezitiert die Geschichte seines Wachsens, versichert sich der Gegenwart, und ist zugleich ein Zeichen von Transienz, des fortwährenden Strebens in das Nächste. Die Mathematiker beschreiben das, was ich in diesem Augenblick im Laufen flüchtig aber klar wahrnehme, unter dem Namen der Markow-Kette so: Gegeben die Information über die Entwicklung des Prozesses bis zur Zeit t hängt die zukünftige Entwicklung nur vom Zustand zur Zeit t ab und nicht von der Vergangenheit.

Das sehe ich, während ich laufe, flüchtig, aber klar, denn die Bäume schreiben es im Herbst mit zweidimensionalen Schriftzeichen in die Lumineszenz des Himmels. Sie schreiben: Es fließt Zukunft wie stetes Wasser aus dieser Gegenwart. Wie ich weiter wachsen werde, aus mir selbst heraus wachsen, die Information, die in mir wirkt entfaltend, bis ich den Himmel bestimmungsgemäß zerschnitten und so geteilt habe, dass eine Sinfonie aus Schrift über mein Wachsen offenbar werde, ist von meinem Zustand zu dieser Zeit abhängig, nicht von dem was war. Mein Zustand in dieser Zeit umfasst die Zukunft, mein Streben und mein Entfalten, es umfasst nicht meine Vergangenheit. Also sprechen die Bäume im Schlaf. Und mit jedem Schritt, mit meiner eigenen Bewegung, welche ebenfalls der Vermessung der von Zeit gewidmet ist, ist meine Zukunft wie jene der Bäume, nur von meinem Willen in diesem Augenblick abhängig, sehe ich niemals zurück.

Während ich in die Allee unter den großen Kastanien hineinlaufe, lese ich das Alphabet der Zweige, aber ich erkenne den Baum auch wie ein Lebewesen das andere erkennt, spüre seinen verminderten Atem mit meinem Puls, das Innehalten des hölzernen, fließenden Organismus, der, verharrend, heute bewegt nur von dem leichten Wind in den hohen Zweigen, tief in sich doch bereits das nächste Frühjahr in sich trägt. 

In den Zeichen, welche die nackten Zweige in den lichtgrauen Himmel schreiben, lese ich klarer als in der Fülle des Sommers, dass Leben Intelligenz voraussetzt, ich verstehe, dass der Schlaf der Bäume selbst die Idee von Zeit voraussetzt und sie verkörpert. 

In meiner eigenen Bewegung  lege ich das Bild von gestern, von vorgestern, auch des letzten Sommers, des letzten Frühjahres, des vorherigen Winters  usw. über das Bild des heutigen Baumes und verschiebe meine Gedanken zwischen den Lagen der Erinnerung. Auch hier ereignet sich Transienz, und die Abgrenzungen werden unscharf und die Zeit löst sich auf. Nach tausendfacher Wiederholung der Strecke leuchtet der Pfad unter den Füßen und löst die Zeit sich auf. An keinem Ort bin ich zuhause, aber ich bin  es in dieser Bewegung. 

Meine Fußsohlen spüren Steine und Unebenheiten durch die dünne Sohle der Barfußschuhe, die ich im Herbst trage, auch die Kälte des Asphalts. Ich lasse die Straße hinter mir und laufe durch die Allee des Wirtschaftweges an den Knicks vorbei und schließlich in den Wald. Im diesem November sind die Waldwege noch weich, der Morgenfrost ist noch nicht in den Boden eingedrungen, sondern hat nur die Ränder der Blätter und der feinen Äste, die auf den Weg hinuntergeregnet sind, mit weißen Kristallen verziert. Noch raschelt das Laub unter meinen Füßen. Meine Bronchien brennen, mein warmer Atem steht in der Luft. Krähen kreisen über den Bäumen in der Zwischenwelt. Ich laufe, sie fliegen. 

 

Himmel über Berlin, Exzerpt

 

Ich sah aus dem Fenster in den samtblauen, leuchtenden Nachhimmel hinter den gedämpften Partylichtern, die sich in der Scheibe spiegelten. Unsere Gestalten reflektierten sich in der Glasscheibe wie transparente Schatten von morgen. Wir waren schon heute unsere eigene Vergangenheit. Wann würde der Regen kommen? Machte es überhaupt einen Unterschied, ob eine nukleare Staubwolke in 10.000 Metern Höhe über uns hinwegzog, oder der atomare Staub hinabgewaschen werden würde? Und so lange es nicht regnete, machte es einen Unterschied, ob man sich in einem Gebäude oder draußen aufhielt? In der Scheibe redete ein anderer Gregor stumm auf einen anderen Statisten ein, eine andere Melanie tanzte in einem roten Pullover, obwohl dort, in dem parallelen Universum, keine Musik spielte, und die schemenhafte Gestalt, die ich selbst sein musste, mit dem hoch gebundenen Pferdeschwanz, immer noch in meiner Jacke, mit einem Glas Cola in der Hand, zwinkerte mir aus der Parallelwelt zu, als sei sie in ein anderes Buch aus Borges Bibliothek geschrieben, und der Himmel über Berlin in ihrer Stadt roch bereits nach Staub und Sommerregen. Und das war kein Anlass zum Fürchten. In ihrer Welt.

Der Himmel über Berlin

 

Ich kam etwa zwei Stunden zu spät auf der Party an. Niemand hatte mich vermisst. Statt der üblichen Spende von Alkohol hatte ich zwei Männer zum Gelingen des Abends mitgebracht, die ich in der U-1 auf dem Weg hierher getroffen und kurzerhand überredet hatte, mich zu begleiten. Einer war ein Münchner namens Gregor, der kurz davor stand, sein Jurastudium abzubrechen und seine Wochenenden derzeit damit verbrachte, von einer Party zur nächsten zu driften.

Gregor wohnte zu seiner eigenen Verlegenheit in einer kleinen, für ihn erworbenen Eigentumswohnung seiner Eltern in Dahlem und war auf dem Weg nach Hause gewesen. Ich hatte ihn bereits seit einigen Wochen nicht mehr in der Uni gesehen. Ich mochte ihn. Er erwiderte mein Interesse nicht, aber wir gingen  gelegentlich zusammen ins Kino. Man konnte gut mit ihm reden, wenn er nüchtern war. Er war ziemlich belesen. Zuletzt hatten wir zusammen  „Brazil“ OmU von Terry Gilliam gesehen. Das war schon wieder einige Monate her. An diesem Abend in der U-Bahn waren Gregors Pupillen ziemlich schwarz und sein Blick etwas entfernt. Er hatte seinen Arm nachlässig um die Schultern seines Begleiters gelegt. Einer hielt den andern aufrecht, oder sie hielten sich doch jedenfalls abwechselnd in der Gegenwart, die dem jeweils anderen sichtbar entglitt.

Gregors Begleiter trug eine Baseballjacke mit der Aufschrift „Texas Rangers“ und schien ein großer Schweiger zu sein. Gregor hatte zwar wenig offenkundige Begeisterung für meinen Vorschlag, mich auf Melanies Party zu begleiten, aber auch ebensowenig Widerstand gezeigt. “What the hell”, hatte er gemurmelt, aber mit bayrischem Akzent. “Sure.” Und dann: “Why not.” Gregor hatte ein Austauschschuljahr in einer Kleinstadt in Michigan verbracht. Er liebte und verachtete alles Amerikanische. Sein Begleiter war vorübergehend eingenickt, sein Kopf rollte mit den Bewegungen der U-Bahn sacht und vollkommen entspannt über seine Brust, aber Gregor schien davon auszugehen, dass wir die Zustimmung des Texas Rangers nicht brauchten.  Great.

Während der Ranger schlief, erzählte ich Gregor von dem Vortrag des Feinstrickpullis und selbsternannten Experten für nukleare Sicherheitsfragen vom Vormittag, den ich jetzt nur noch  „General „Buck“ Turgidson“ nannte, und den wir beide, Gregor und ich, schon im Zivilleben, als reiner Pulli, nicht gut hatten ertragen konnten, weil an dem Mann kein einziger originärer Gedanke zu entdecken war, er aber ununterbrochen aus zusammengebastelten Gedanken dozierte. Man konnte ihm nicht aus dem Weg gehen, er war gut darin, sich strategisch geeignete Plätze in der Wandelhalle zu suchen, bevor er mit seinen Vorträgen begann, wie ein Startenor, dem es darum geht, mit dem Klang seiner Stimme wirklich alle zu erreichen und zu beglücken. Er galt als ungemein klug. 

Ich dachte, ich könnte Gregor ein wenig aufmuntern, indem ich ihm eine kleine Impromptu-Performance der Szene in der Wandelhalle mit der Referenz aus Dr. Strangelove gab, die mir spontan in den Sinn gekommen war, Derartiges gefiel Gregor jedenfalls in nüchternem Zustand. Überhaupt gefiel ihm alles, was mit Film zusammenhing. Pasolini. Fellini. Gilliam. Zwischen Oktober 1985 und Mai 1986 hatte ich Dr. Strangelove in drei verschiedenen Kinos gesehen, zweimal davon mit Gregor.

Ich imitierte den General, aber nahm die typische, leicht bogenförmige Körperhaltung des Feinstrickpullies ein: „Mr. President, we are rapidly approaching a moment of truth both for ourselves as human beings and for the life of our nation. Now, truth is not always a pleasant thing. But it is necessary now to make a choice, to choose between two admittedly regrettable, but nevertheless *distinguishable*, postwar environments: one where you got twenty million people killed, and the other where you got a hundred and fifty million people killed.“ 

Ich gab eine überzeugende Darstellung, fand ich. Der Schweiger wachte auf, aber Gregor versäumte leider seinen Einsatz als President Merkin Muffley: „You’re talking about mass murder, General, not war!“ Der Schweiger betrachtete mich ausgiebig über den Gang hinweg, als sähe er mich jetzt zum ersten Mal, seine Augen wanderten über mich wie über eine unbelebte Oberfläche unbekannten Ursprungs und blieben mit mit einer etwas verstörenden Aufmerksamkeit  an den Details hängen, an meiner Nase, meinen Lippen, meinen Ohrringen, den Knöpfen meiner Jacke. Die methodische Weise, mit der er dabei vorging, gab mir das Gefühl, wie ein seltenes Insekt studiert zu werden. Die beiden waren offenbar auf demselben Trip. Ich ließ es gut sein und summte wieder „Try a little tenderness“. Ich war so angespannt, dass meine Haut kribbelte. 

Als wir am Studentenwohnheim Dahlemdorf, Gebäude 6, angekommen waren, folgten wir einfach der Musik, die durch das Treppenhaus geblasen wurde. Auf dem Weg von der U-Bahn hierher hatte sich herausgestellt, dass der Typ in der Baseballjacke tatsächlich ein Amerikaner aus Texas war. Gregor hatte mir anvertraut, dass er sich nicht erinnern konnte, wo er ihn aufgelesen hatte. Im Augenblick wirkte Gregor plötzlich recht nüchtern. Ich bedauerte wieder einmal, dass er nicht weiter studieren wollte. Es schien eine Verschwendung, dass einer wie Gregor sich plötzlich gegen das Studium entschied, das mehr Leute wie ihn und weniger vom Typ Feinstrickpulli gut vertragen hätte. Ich war überzeugt, dass er das Zeug zu einem guten Juristen hatte. Er hatte seine Klausuren mit einer gewissen nachlässigen Eleganz und ohne viel Aufsehens davon zu machen, sofort im zweistelligen Bereich geschrieben. Sein Vater war ein bekannter Richter in München, aber damit ging Gregor nicht hausieren. Ich vermutete,  Gregor wollte nicht wie sein Vater werden.

Im Treppenhaus des Studentenwohnheims kamen uns Leute entgegen, die bereits auf dem Weg zur nächsten Party waren und uns im Vorbeigehen aufforderten, uns ihnen anzuschließen. Der Amerikaner strahlte und folgte ihnen wie ein Hündchen , dem man einen neuen Stock geworfen hatte, nur um sich ebenso plötzlich doch anders zu besinnen und uns – oder jedenfalls Gregor – erneut hinterher zu stürmen, zwei Stufen auf einmal nehmend. Er  schob sich gleichzeitig mit uns durch die offene Wohnungstür. „Here we are,  here we are“, rief er in den Raum und fuchtelte mit seinem rechten Arm, als lehne er sich aus einem einfahrenden Zug. Ein paar Leute lachten. Gregor und ich grinsten einander an. Der Amerikaner machte sich ohne Zögern auf die Suche nach einem Bier.

Die Leute waren erwartungsgemäß überwiegend bereits ziemlich betrunken oder bekifft. Toni, der heute morgen in der Strafrechtsvorlesung neben mir gesessen hatte, hatte es irgendwie geschafft, sich auf ein Glas oder eine auf eine  Flasche auf dem Couchtisch zu setzen, die prompt unter seinem Gewicht zerbrochen war, und ließ sich gerade im WC bei aus Platzgründen geöffneter Tür von zwei Medizinstudenten die Splitter aus dem Hintern ziehen. Dafür hing er halb ohnmächtig über dem geschlossenen Klodeckel. Jemand erzählte, dass die Mediziner auf die Idee gekommen waren, die Schnittwunden mit Wodka zu desinfizieren. Toni selbst war so betrunken, dass weitere Maßnahmen zur Betäubung nicht erforderlich waren.

Von dem Couchtisch führte eine Blutspur  über das Linoleum bis ins Bad. Die Scherben auf dem Tisch waren aber erstaunlicher Weise fortgeräumt worden. Die Party ging weiter. “Der muss genäht werden”, rief einer der Mediziner aus dem Bad. “Das blutet ja wie Sau. Wer bringt den jetzt ins Krankenhaus?” 

“Zu mir kommt der nicht ins Auto”, antwortete ein anderer unvorsichtiger Weise im Vorübergehen, “der versaut mir die Polster.” Ah, Philipp. Unkluge Bemerkung. Die Mediziner schleppten Toni aus dem Bad zurück ins Zimmer und deponierten ihn vorübergehend bäuchlings jetzt zwischen Sofa und Couchtisch auf dem Linoleum. Dann nahmen sie Philipp ins Kreuzfeuer, der immer wieder den Kopf schüttelte. Die Jungs hatten Tonis Jeans wieder hochgezogen, aber der Hosenboden war zerschnitten und blutgetränkt. “Das sieht echt scheiße aus”, stellte ein dritter Mediziner fachkundig fest, den können wir hier doch nicht so liegen lassen. Philipp geriet zunehmend unter Druck, aber leistete noch Widerstand. Der Mann liebte sein Auto. 

Der Amerikaner stand ebenfalls mit einer Bierflasche in der Hand über den Couchtisch hinweg über Tonis Hintern gebeugt und begutachtete ihn ebenso konzentriert wie er vorhin in der U-Bahn mein Gesicht betrachtet hatte. Dann richtete er sich auf und sagte begeistert: „This guy busted his ass“, als sei dies eine unglaubliche Entdeckung. Er hatte Spass in Berlin, das konnte man deutlich sehen. Er richtete sich auf, brauchte einige Augenblicke, um sich wieder im Raum zu orientieren, und schob sich zurück in die Küche, um sich ein neues Bier zu holen.

Die Mediziner bearbeiteten Philipp weiter. Schließlich würden sie eines Tages das Genfer Gelöbnis ablegen. Sie waren entschlossen, Toni zu retten. Vielleicht hatten sie es aber auch nur mit der Angst zu tun bekommen, nachdem ihre Wodka-OP nur zu einer Verstärkung der Blutung geführt hatte. Schließlich gab Philipp auf, holte seine Pilotenjacke und zog die Schlüssel für seinen Golf GTI aus der Hosentasche. Ich war sicher, dass ihm das Herz mindestens ebenso blutete wie Tonis Hintern.

Die Mediziner holten ein Handtuch aus dem Bad und eine Aldi-Plastiktüte aus der Küche, um Philipps Polster zu schützen und zogen Toni  mit einiger Mühe vom Boden hoch. Philipp ging fluchend voran und die beiden Medizinstudenten folgten mit Toni, indem sie sich jeder jeweils einen seiner Arme um den Hals schlangen. Toni hing zwischen ihnen und schritt teils wie eine Marionette mit hölzernen Schritten mit, teils wurde er von seinen Samaritern über den Boden geschleift. Er verlor mit jedem Schritt Blut aus dem Hosenbein und trug ein Grinsen im Gesicht, das irgendwo zwischen Schmerz und Heldentum eingefroren war. Ich fragte mich, ob er sich morgen daran erinnern würde, wie er zu seinen Verletzungen gekommen war. Heute Mittag hatte er traurig in den strahlenden Himmel geblickt und dann festgestellt, dass es jetzt Zeit zum Feiern sei. Wenn die Welt schon vor die Hunde ginge, müsse man feiern, verdammt.

Melanie,  die Gastgeberin, die einen spektakulär flauschigen, engen roten Pullover trug, tanzte von allem und allen unberührt, vollkommen in sich selbst versunken in der Mitte des Raums, verfolgt von den trägen Blicken mehrerer Typen, die  an den Wänden am Boden saßen, aber zu bekifft oder zu betrunken waren, ihre offensichtlichen Gedanken in Taten umzusetzen. Es stellte sich heraus, dass es sich  bei der Party um Melanies Geburtsparty handelte. Ich bereute, dass ich gekommen war. Der Umstand, dass dies eine Geburtstagsfeier sein sollte, machte den Tag noch bedrückender. Meistens vermied ich Parties, für die eine Generaleinladung durch die Wandelhalle ging. Die Alkoholexzesse der Juristen und der Mediziner auf solchen Parties, für die eigentlich niemand so richtig zuständig, auf die niemand wirklich persönlich eingeladen war, nicht einmal die Leute, die es waren, waren Legende, aber ich hatte den Abend nicht allein verbringen wollen. Ich hatte vor allem nicht weiter über den strahlenden Himmel nachdenken wollen.

Über den Mangel eines Geschenks für die Gastgeberin brauchte ich mir allerdings keine Gedanken zu machen, denn Melanie, mit der ich übrigens nur sehr lose bekannt war, befand sich in einer anderen Sphäre, in welcher nur sie, der Kuschelpullover und ihre seltsam fließenden Bewegungen existierten. 

Die Leute, die das Zimmer durchquerten, gingen um sie herum wie um ein Möbelstück. Ihre beste Freundin  Rebecca saß auf dem Sofa, vor dem gerade noch Toni gelegen hatte, hielt ein Glas Weißwein in der Hand und war tief in ein Gespräch mit einem hübschen Philosophiestudenten versunken, der dafür bekannt war, auf Juristen- und Medizinerparties aufzutauchen und die Mädchen mit seinen  rehbraunen Augen ernsthaft anzublicken, ihnen nachdenklich zuzuhören und gelegentlich, tatsächlich ziemlich gekonnt, unaufdringlich Kommentare wie „Kants Imperativ“  oder “Es gibt kein wahres Leben im Falschen” in die Unterhaltung einzuflechten.

Die Juristen und Medizinerfachbereiche zogen vorwiegend Männer an, die sich gerne selber reden hörten und Frauen, die dieser Monologe zwar müde waren, aber nicht so müde, als dass sie die feministischen Positionen ihrer Müttergeneration auszuprobieren gewillt waren. Manche kamen überdies aus überzeugt bürgerlichen Elternhäusern, andere simulierten eine solche Herkunft recht überzeugend. Der Philosophiestudent nahm sich gekonnt des emotionalen Bedarfs der in ihrer eigenen Inertia von ihren Kommilitonen unterschätzten und zugleich intellektuell unterversorgten Studentinnen der fremden Fachbereiche an.

Erst im zweiten Stadium der Eroberung wurde der schöne Philosoph beredter und schöpfte aus einem (wie ich  zu anderer Gelegenheit  aus erster Hand in Erfahrung hatte bringen können) durchaus begrenzten Repertoire an literarischen und philosophischen Zitaten. Dann sprach er mit großer Ernsthaftigkeit und fein zurückhaltender Leidenschaft: „Wenn mir etwas von Hegel und denen, die ihn auf die Füße stellten, in Fleisch und Blut übergegangen ist, dann ist es die Askese gegen die unvermittelte Aussage des Positiven; wahrhaft eine Askese, glauben Sie mir, denn meiner Natur läge das Andere, der fessellose Ausdruck der Hoffnung, viel näher.“ Auf den bewundernden Blick seiner Gesprächspartnerin, der dieser Offenbarung folgte, gab er bescheiden seine Quelle preis: „Adorno natürlich. Aus dem Briefwechsel mit Thomas Mann. Aber besser kann man es nicht zu sagen.“

Das Zitat probierte er auch an Rebecca aus, es war einfach zu schön, um lange ungenutzt im Archiv zu stecken. Ich dachte: „Und  das, wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Wittgenstein.“ Aber ich gönnte ihm seinen Erfolg; er arbeitete redlich dafür. Und die Begrenztheit seines Repertoires störte nicht, denn er fand immer wieder eine neue Zuhörerin. Ich hatte noch nie eine Klage über den schönen Philosophen gehört.

Von Zeit zu Zeit sah Rebecca zu Melanie hinüber, die weiter vor sich hin tanzte wie eine kaputte Puppe. Ob sie sich von dem Philosophen losreißen würde, um Melanie zu retten, wenn sich ihr jemand in ihrem trunkenen Zustand nähern sollte?  Ich versuchte noch einmal zu erinnern, wer mich eigentlich zu der Party eingeladen hatte. Wahrscheinlich war es Toni gewesen. Hatte er erwähnt, dass es sich um Melanies Geburtstag handelte?  Ich konnte mich nicht entsinnen. Ich war in den letzten Tagen abgelenkt, nahm nur ausschnittsweise am Geschehen teil. Der strahlende Himmel beschäftigte mich. Verdammt. Ich gab das Nachdenken auf, holte ich mir ein sauberes Glas aus dem Küchenschrank und öffnete eine unangebrochene Flasche Cola mit einem Zisch und schenkte mir ein. Dann stellte ich mich zu einer Gruppe von Leuten, die offenbar noch nüchtern genug waren, um miteinander zu reden, unter ihnen Gregor. 

Das Gespräch handelte zunächst vom Wetter, davon, wann der Regen kommen würde, und  schließlich, ohne rechten Zusammenhang davon, dass Westberlin sowieso eine Fiktion war. “Westberlin ist eine Fiktion, verdammt”, sagte Gregor mehrmals, “eine verdammte Fiktion”. Ich sah aus dem Fenster in den samtblauen, leuchtenden Nachhimmel hinter den gedämpften Partylichtern, die sich in der Scheibe spiegelten. Unsere Gestalten reflektierten sich in der Glasscheibe wie transparente Schatten von morgen.

Einer der Studenten, kein Jurist, war als Statist bei den Filmarbeiten zu Wim Wenders „Himmel über Berlin“ engagiert worden, und erzählte davon, dass er Peter Falk getroffen habe. Nun ja, beinahe getroffen. Eher ihn einmal im Vorbeigehen gesehen, also fast neben ihm gestanden hatte. Das ist ein cooler Typ, trotz seines Alters, schwärmte er. Gregor hing an seinen Lippen. „Nimmst Du mich das nächste Mal mit, fragte er den Statisten, wann gehst Du wieder hin? Suchen sie noch Statisten?”

Aber der Statist fühlte sich zwischen dem Stolz, dass seine Geschichte auf fruchtbaren Boden gefallen war, und der Anmaßung, dass Gregor dachte, er könne auch ohne weiteres als Statist ausgewählt werden, als sei das nichts Besonderes, als habe Peter Falk ihn , den Erzähler, nicht beinahe persönlich ausgesucht, weil er ein solches Charaktergesicht hatte, hin- und hergerissen. “Das geht nicht so einfach, wie Du Dir das denkst”, erwiderte er. “Da muss man sich erst einmal einfühlen, in die Zeit, verstehst du, da musst Du echt erst ein feeling dafür kriegen.” Aber ich sah Gregor schon an, dass er auf jeden Fall gehen würde. Er war jetzt ganz nüchtern und konzentriert.

Ich sah aus dem Fenster in den samtblauen, leuchtenden Nachhimmel hinter den gedämpften Partylichtern, die sich in der Scheibe spiegelten. Unsere Gestalten reflektierten sich in der Glasscheibe wie transparente Schatten von morgen. Wir waren schon heute unsere eigene Vergangenheit. Wann würde der Regen kommen? Machte es überhaupt einen Unterschied, ob eine nukleare Staubwolke in 10.000 Metern Höhe über uns hinwegzog, oder der atomare Staub hinabgewaschen werden würde? Und so lange es nicht regnete, machte es einen Unterschied, ob man sich in einem Gebäude oder draußen aufhielt? In der Scheibe redete ein anderer Gregor stumm auf einen anderen Statisten ein, eine andere Melanie tanzte in einem roten Pullover, obwohl dort, in dem parallelen Universum, keine Musik spielte, und die schemenhafte Gestalt, die ich selbst sein musste, mit dem hoch gebundenen Pferdeschwanz, immer noch in meiner Jacke, mit einem Glas Cola in der Hand, zwinkerte mir aus der Parallelwelt zu, als sei sie in ein anderes Buch aus Borges Bibliothek geschrieben, und der Himmel über Berlin in ihrer Stadt roch bereits nach Staub und Sommerregen. Und das war kein Anlass zum Fürchten. In ihrer Welt.

 

Ein strahlender Tag

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Der 2. Mai 1986, ein Freitag, war  in mehrfacher Hinsicht ein strahlender Tag in West- und in Ostberlin. Der Himmel war  strahlend tiefblau,  absolut wolkenlos. Am Morgen  dieses Tages wippte ich auf meinem Klappstuhl im Auditorium Maximum im Henry Ford Bau der Freien Universität Berlin, balancierte einen linierten Schreibblock auf den Knien und zeichnete mit einem sehr feinen schwarzen Filzstift (0,05-Spitze, Edding) in die Marginalien meiner Notizen, während ich der Strafrechtsvorlesung Prof. Dr. Hermann Bleis mit relativer Aufmerksamkeit folgte. Die Figuren, welche die Ränder meines Heftes bevölkerten, waren in Zillemanier ausgeführt und erfreuten auch meine Sitznachbarn, die von Zeit zu Zeit hinüber spähten und unterdrückt lachten. 

Die Vorlesung gab mir ausreichend Anregung zu meinen  karikaturistischen Zeichnungen. Prof. Blei bevölkerte seine Fälle mit misogynen Charakteren, an denen wir die Grundzüge des Strafrechts deklinieren lernen sollten. Der Prof. war ein bayrisches Urgestein, er dozierte nicht, er polterte. Die von ihm gebildeten Lehrfälle zeugten von einer unapologetischen Altherrenphantasie. Hier traf ein Zuhälter namens Himmelsstoss auf einen Gynäkologen  namens Prof. Dr. Frauenfeind, ein Zahnarzt trug den inspirierten Namen Dr. Deflorian. Der anzügliche Ton setzte sich bei den Frauennamen fort, hier agierten in unheilvoller und unappetitlicher Manier die Witwe Wüst und ihre Freundin, die Prostituierte Freudenreich, ihre kriminellen Neigungen an unschuldigen, schwächlichen Männern aus. Letztere wurden auch von einem Filmstar namens Busoni übervorteilt oder von diversen Ehefrauen zurechtgestutzt, welche sich Frau Emanz, Frau Freudlos oder Frau Unwirsch nannten. Deren – dem Personenstand naturgemäß freudlos – vermählten Ehemänner hießen Herr Sündermann, Herr Lüderjahn und August Geil. 

Für Prof. Blei gab es, dies schien die eigentliche Essenz dieser Fälle, nur drei Motive für jegliches Verbrechen, drei Motive, an denen wir Diebstahl, Betrug, Raub, Körperverletzung, Totschlag und Mord in allen qualifizierenden Varianten messen sollten, drei Motive, die für ihn offenbar das  gesamte übrige Leben, das strafrechtlich nicht relevante Menschengewimmel, umfassend und abschließend zu erklären vermochten. Geilheit, Geldgier. und Dummheit.  In beliebiger Reihenfolge. Die Fallbeispiele zum untauglichen Versuch, zum Irrtum über Rechtfertigungsgründe oder zum dolus directus und dolus eventualis, die dies veranschaulichen sollten, und welche ich in den Marginalien der Notizen zu seinen Vorlesungen illustrierte, waren in ihrer konstruierten stereotypen Abstraktion wie versteinerte Weltentheater in Streichholzschachteln. 

Prof. Blei, korpulent, Halbglatze, Hornbrille, war unter den Studenten und Studentinnen bekannt wie ein bunter Hund. Sein Ruf eilte ihn voraus und er arbeitete gewissenhaft und erfolgreich daran, ihn zu erhalten. Kommilitoninnen, die offensichtlich politisch engagierter waren als ich, und die sich über Prof. Blei (aber niemals, soweit ich erinnere, ihm persönlich gegenüber) letztlich zu Recht empörten und „Konsequenzen“ forderten, hielt ich entgegen, ich sei der Auffassung, man solle ihn doch vielmehr unter Denkmalschutz stellen und gewähren lassen. Soviel zur feministischen Solidarität. Der Prof. sei, so argumentierte ich und kam mir dabei geistreich vor, der Letzte einer aussterbenden Art, die neue Zeit stehe schon vor den Türen, und das könne und müsse gegenüber einem Fossil vergangener Tage wohl in gewisser Weise mild und versöhnlich stimmen. Nach Prof. Blei würden dann, das müsse uns klar sein,  nur noch solche kommen, die ihren Misogynie wesentlich besser zu verkleiden verstehen würden. Mit Letzterem sollte ich Recht behalten. 

Zwar gab es auch 1986 noch andere Profs, welche den Frauen in ihren Lehrfällen Namen wie „Berta Bummske (im folgenden: B)“ gaben, aber keinem von diesen gelang es wie Prof. Blei, auch seinen Kritikern wenn schon keinen Respekt, so doch jedenfalls von Zeit zu Zeit ein unwillkürliches Grinsen abzuringen. Das hatte weniger mit der Namensgebung in seinen Lehrfällen und seiner gesellschaftspolitischen Einstellung zu tun, als vielmehr mit seinem Gesamtauftreten,  das aus einem Guss war. Der Mann war ein wandelndes Kuriositätenkabinett, in seiner Menschen- und Frauenverachtung eine Art spezialisierter, überzeichneter Kästner, kurz: ein Gesamtkunstwerk. 

Die ZEIT hatte in einem im  juristischen Fachbereich wohlbekannten Artikel zwei Jahre zuvor Bleis „Kuriositäten“ als „aggressive, unangenehme Überschreitungen des üblichen juristischen Schenkelklopf-Humors“ bezeichnet.  Und doch: hier stand er vor uns, und fabulierte und dozierte mit unverminderten Geschmack an der Grenzüberschreitung weiter. Den änderte keiner mehr, keine Studentenkritik, die ihm die Fantasie eines dilettierenden Pornoschreibers in einer Fachpublikation attestiert hatte, keine Artikel in der ZEIT, auch nicht die Distanz feingeistiger Kollegen. 

Nicht diese Überschreitung, der mehr menschen- als allein frauenverachtende, aus dem Ruder gelaufene Kalauer, aber diese polternde Unbeirrbarkeit, unterhielten mich insgeheim. Den Mann zu mögen, war ein früher Fall von political Uncorrectness, dessen war ich mir bewusst. Ich hörte dem Urgestein angeregt zu, amüsierte mich und zeichnete. Ich war ziemlich gut in strafrechtlicher Dogmatik. Prof. Blei konnte man ohne weiteres zwei Stunden zuhören, nicht nur wegen seiner bayrischen Farbigkeit und ungezügelten Lust am Schlüpfrigen. Er war, so schien es, gern im Hörsaal, das traf nicht auf alle unsere Dozenten und Professoren zu. Prof. Blei, trotz politisch kontroverser Positionen, konnte Recht unterrichten. 

Wir saßen im Audimax, zwanzig Jahre zuvor das Zentrum der Berliner Studentenproteste. Die Achtundsechziger Studentenbewegung und ihre politischen Unruhen und Verwerfungen war ein Werk unserer Eltern, ihre Proteste in unseren Augen Diskussionen von gestern, derer wir müde waren. An der Universität Berlin herrschte jedenfalls unter den Studierenden der Rechtswissenschaft wieder beflissene, neutrale Strebsamkeit. Wir trugen blaue Rollkragenpullover und Perlenohrringe, und lächelten über Socken in Birkenstocksandalen. 

Dabei war Berlin war immer noch geteilt. Der Kalte Krieg dauerte an und wir waren mittendrin und nach zwanzig Jahren politischen Aufbegehrens unserer Eltern weitgehend ahnungslos. Der NATO-Doppelbeschluss, welcher die Aufstellung neuer mit Atomsprengköpfen bestückter Raketen und Marschflugkörper – Pershing II und BGM-109 Tomahawk – in Westeuropa vorsah, war trotz massiver Proteste der Bevölkerung nicht verhindert worden, und wir interessierten uns nicht weiter dafür. Joseph Beuys war im Januar desselben Jahres gestorben und mit ihm schien der letzte Wille zur leidenschaftlichen politischen Aktion endgültig zu Grabe getragen worden sein. Sein letztes Urteil über die Grünen: stinklangweilig!, beschrieb auch die neue Generation Studierender der FU. 

Wir waren stinklangweilig. Politik wurde wieder  in Bonn gemacht und wir mischten uns nicht ein. Auch an jedem strahlenden Morgen im Februar, pilgerten wir brav in unsere Vorlesungen, um zu erfahren, wie das Verhalten von August Geil gegenüber Berta Bummske strafrechtlich zu beurteilen sei. Ich saß in Prof. Bleis Vorlesung, zeichnete, ignorierte den strahlenden Himmel und tat so, als lebten wir nicht in einer Welt am Abgrund. 

Nach der Vorlesung war es fast Mittagszeit. Studenten strömten aus den Vorlesungssälen  des Henry-Ford-Baus Richtung Cafeteria im Hauptgebäude des Fachbereichs in der Van´t Hoff-Straße. Es war warm an diesem Maitag, und vereinzelt ließen sich Studenten wie gewohnt auf den Rasenflächen zwischen den Fachbereichsgebäuden nieder, aber die meisten mieden den verlängerten Aufenthalt im Freien und suchten zügig das Lehrgebäude in der Van´t Hoff-Straße auf.

Ich passte mein Tempo dem Strom von Studenten an, die zur Van-t-Hoff-Straße hinüberliefen,  diesem seltsamen trägen Tempo der Masse, das auf einer universellen Trägheit beruht. Im Fachbereich leerte ich mein Schließfach und setzte mich auf eine Bank in der Wandelhalle, um meinen  Schreibblock und meinen ziegelsteinschweren Schönfelder, eine fette Loseblattsammlung Deutscher Gesetze, in meiner Tasche zu verstauen. Ich wollte in nicht in der U-Bahn auf den ersten Blick als Jurastudentin erkennbar sein. 

Um mich herum standen Studenten in kleinen Gruppen, die das neue Vokabular der letzten Tage aneinander ausprobierten und über leicht flüchtige Isotope, Jod-131, Cäsium-137 und Strontium-90 diskutierten, als wären wir an der TU bei den Physikern. Niemand hier wusste, was diese Vokabeln tatsächlich bedeuteten. Vor vier Tagen, am 28. April, war in dem schwedischen Kernkraftwerk Forsmark aufgrund alarmierender radioaktiver Messungen Alarm ausgelöst worden. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die radioaktive Wolke, welche sich über dem sowjetischen Kernkraftwerk Wladimir Iljitsch Lenin nahe der ukrainischen Stadt Prypjat nach einem offenbar katastrophalen nuklearen Unfall gebildet hatte, bereits über Polen und die baltischen Länder Richtung Skandinavien bewegt. Ebenfalls am 28. April hatte die sowjetische Nachrichtenagentur TASS erstmals kurz von einem „Zwischenfall“ beim Betrieb des Kernkraftwerks Tschernobyl, zwei ganze Tage zuvor, nämlich am 26. April, berichtet. Zu dieser Zeit hatte der „Zwischenfall“ wahrscheinlich bereits eine Aktivität von mehreren Trillionen Becquerel freigesetzt.

Der Himmel über Berlin strahlte. In den Medien herrschte milde bis ausgedehnte Desinformation, die in erster Linie der Beschwichtigung diente. Der Berliner Bürgermeister Diepgen ging persönlich Gemüse und Salat einkaufen, und ich überlegte, ob ich die Einladung zu einer Party im Studentendorf Dahlem an diesem Abend annehmen sollte. Der Himmel strahlte, aber für die nächste Woche war Regen vorhergesagt, welche den radioaktiven Staub in die Stadt hinunterwaschen würde. Zuvor aber ein sommerlich warmes Wochenende. 

Das tröstliche Wort „Zwischenfall“, übersetzt aus der kargen Meldung der Sowjets und aufgegriffen von deutschen Politikern und Nachrichtensprechern konkurrierte in den Diskussionen in der juristischen Wandelhalle mit dem weniger tröstlichen Begriff Wort Super-GAU, ebenfalls neu in unserem Vokabular.  

Das sei alles nicht so wild, kein Grund zur Panikmache, dozierte ein blauer V-Ausschnitt  über gestärktem Hemdkragen, drittes Semester. Zwischenfälle in AKWs seien im Szenario auslegungsüberschreitender Störfälle bereits vorhergesehen und es gäbe gute Notfallpläne. Er werde in nächster Zeit einfach nicht so viel frisches Zeugs essen. Unfälle seien bei der Auslegung kerntechnischer Anlagen und Prüfung der kerntechnischen Zulassung bereits anzunehmen, dies sei doch glasklar. 

Ich starre kurz hinüber. Die Selbstsicherheit, mit der der blaue Feinstrick-Pullover dies vorträgt, ist verblüffend. Innerhalb von vier Tagen ist er zum Experten für die nukleare Sicherheit in West-Deutschland und zu seinem eigenen Propagandaministerium avanciert. Er legt  seinen Zuhörern eindringlich dar, warum wir hier, in Westdeutschland und in Westberlin sicher sind, wir haben die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS), eine technisch-wissenschaftliche Forschungs- und Sachverständigenorganisation mit rund 450 Mitarbeitern, davon mehr als 350 Wissenschaftlern. Deren Hauptaufgabe bestehe darin, die Sicherheit technischer Anlagen zu bewerten und zu verbessern und den Schutz von Mensch und Umwelt vor Gefahren und Risiken solcher Anlagen weiterzuentwickeln. 

Wie ein Echo zu seinen Worten höre ich General „Buck“ Turgidson aus Dr. Strangelove: „The Russkie talks big, but frankly, we think he’s short of know how. I mean, you just can’t expect a bunch of ignorant peons to understand a machine like some of our boys.“ 

Der Feinstrickpulli fügt nicht explizit hinzu, dass nukleare Strahlung sich auf den Kompetenzbereich der jeweils zuständigen Behörden beschränkt und an der Berliner Mauer geflissentlich und gehorsam kehrmacht, aber das ist die Essenz seiner Rede. Also, kein Anlass zur Sorge. Wenn ich mich auf der Party an den Rotwein halte, von denen manche meinen, dass er vor der Strahlenkrankheit schütze, und mich vom Salat fernhalte, bin ich auf der sicheren Seite. Jedenfalls bis der Regen kommt. Ich beschließe, auf die Party zu gehen, auch wenn ich keinen Rotwein mag.

Dennoch bin ich für einen Augenblick versucht, den Pulli nach der  Van-’t-Hoff-Gleichung aus der Thermodynamik zu fragen, die den Zusammenhang zwischen der Lage des Gleichgewichts einer chemischen Reaktion und der Temperatur bei konstantem Druck beschreibt. Das sollte für den frischgebackenen naturwissenschaftlichen Experten eine einfache Frage sein, da unser Fachbereich seine Postadresse in der Van-Hoff-Straße hat, und würde ihm erlauben, sein Allgemeinwissen ebenso glänzend auszuführen wie sein neues naturwissenschaftliches Vokabular, das offenbar aus der Berliner Morgenpost stammt. Er wäre mir sicher sehr dankbar für die Gelegenheit. Ich entscheide mich dagegen, schlinge mir meine Ledertasche um die Schultern und spaziere zum Ausgang, während ich „Try a little tenderness“ aus Dr. Strangelove vor mich hinsumme.

Shadow body

IMG_5754Eventually Scully´s door opened, too. He pushed his heavy frame out of the car and slammed the door causing a few sea gulls to swoop up in unison and to quickly synchronize their flight. I watched them enviously not so much for their ability to fly but for their effortless communication. Scully placed himself right next to me, leaning onto the VW front with some of his weight. For once he was quiet. Hard to say if it was just because his rage, which predictably flared up whenever things didn’t go as planned, had burned out, or whether because he had noticed the colors, the smells and the creatures eyeing us from all directions and enjoyed them. I couldn’t say. He had found a map in the glove compartment. It didn’t cover the area. He had also found the article I had written for the health blog and had planned to reread before submitting it. I would have  actually been surprised if Scully had asked for my permission to read it. For Pete´s sake, a few hundred people might read it, why not Scully. He waved it like a white flag. Did you write this, he asked, matter of factly. I continued to study the birds’ flight. He unfolded the sheet all the way and started reading out loud, though in a low voice, not actually mocking me, which kind of surprised me:

“Our physical body, all flesh and blood, rhythm and heart beat, clockwork and sensory organs, defines the outer limits of where we are at this moment, it gives the coordinates of our place in time. It also obeys the limits defined by space and time, it is as vulnerable as it is capable of adaption to a wide range of defining circumstances we perceive as exterior. What a strange thing it really is to behold: to see oneself directly, not mediated by a mirror or a picture taken, but to observe ones fingers, hands, arms, legs and feet in motion, knowing that this very motion has its source in the observing brain but can still be observed as if acting independently from that brain that, at the moment of observation, denies all knowledge of its own doing to itself, a great puppet master. 

My recent accident has directed my attention to my body perception. I have been stunned to realize that when I concentrate on the image my mind has formed of my body (feverish, aching, struggling, eventually recovering etc.)  I do not find one clear image but instead two merging images, like a form and a mellow shadow of this form in late afternoon light. My perception is that I actually have not one but what seems to be two bodies, a physical, touchable body and a non-physical body, acting like a fluid shadow to its undeniable twin. There is no esoteric search behind this, no truth seeking beyond science which would, by the way, be something utterly alien to me. But just to take stock I have to report this: if I concentrate on my body image I come up with representations of two images in my mind, not one.”

Scully coughed, but still did not comment. The birds swooshed back down and started searching for insects on the fields. One landed on the back of a sheep which trotted a few steps ahead and then just resigned itself to its visitor not unlike Scully who had resigned himself to my company. He continued reading out loud.

“These two bodies, I observed consequently,  co-exist, but my non-physical body seems to precede my physical body by a hummingbird´s heartbeat. Now, I could just sort this impression out, reject it as unreasonable and be done with it. After all, this is what the brain does, every day, select what it either wants to or is forced to acknowledge, rejects what it is at liberty to reject or has to reject even if at some cost. But by stating what I perceive I am not stating that I think what I perceive is an unnegotiable truth for everybody, I am not even saying that I have discovered a truth about myself. I am not saying: I am coming back wiser from the great unknown and now am able to report, if without evidence, that humans have a real, a physical, and a virtual body. By talking about this – after pondering this maybe perfect illusion for quite a while – I am simply not ignoring something that over the course of over six months, maybe as a brilliant psychological lesson in self-deceit, has been consistently been presenting itself to me.”

Oh, boy, he remarked, before he turned the page over, there is more of it. I almost smiled. But I didn’t. The sheep had started grazing. The bird on sheepback looked regal and ridiculous at the same time.

“The non-physical body I observe is very flexible, it seems to be an oscillating idea of my physical self, a representation of my physical body in code, a program that constantly adapts to who I think I am. I would say what I perceive is an image of my physical self, and its body matrix. Just like my physical body, my perception of this matrix, this fluid, non-physical body, is that it, too, though not exposed to physical forces originating in the environment perceived as “reality“, obeys its own laws of integrity. Over the course of the last few month, after reconciliating my perception of something I cannot prove to exist to some kind of notion about what is real (but neither can I prove my physical body to exist when I look at the reality of the particles that give me weight and form and that turn out to be build of nothingness, emptiness, resonating space) I have come to the conclusion that this perceived virtual body, the matrix, is vulnerable as well and that, if it gets injured, get so does the physical body that is connected to it. “

Is this about the accident ?, asked Scully. Is it? He looked at me sideways.The pages clearly stated that this was a draft for the health blog I was contributing to every once in a while. It paid quite well. Certainly as well as some of Scully´s legal work. I felt Scully´s glare as I looked at the sheep carrying the bird on its back. Scully was not amused. The bird on the other hand had gotten used to his ride and had fun, it seemed. Maybe they were friends, the sheep and the bird. I was reading too much into it, I knew that. But I liked the idea. This was Deichland, after all. My script. And Scully was my leading character. He did well so far, I thought.

 

Scully flucht

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Scully fluchte, als sich sein Handy, wie bereits seit 50 km befürchtet, noch in deutlicher Entfernung vor unserem Ziel entlud und die Wegbeschreibung von Google Maps, die uns zu dem Pferdehof führen sollte, mitsamt der unbekümmerten Stimme, die mir Anweisungen zum Fahren gab, in dem virtuellen Raum verschwand, in dem sich der Großteil von Scully Leben abspielte. Ich hatte mein Handy zuhause gelassen. In der Ablage unter dem Handschuhfach lag ein sauber aufgerolltes weißes Ladekabel, das Scully etwa bei Erfde erwartungsvoll hervorgezogen hatte, als er den geringen Ladestand seines mobile device, wie er es nannte, bemerkt hatte. Scully trug natürlich nie ein Ladekabel bei sich. Er war ein Großstadtmensch. Er vertraute darauf, dass alle Ressourcen, zumeist in Form von Mitmenschen, zu seiner unmittelbaren Verfügung standen. Dass mein USB-Connector nicht funktionierte, fand er dann ziemlich schnell selbst heraus.

Er arbeitete sich an all den Prozessschritten ab, die ein moderner technischer Laie in seinem Repertoire hat, wenn er einem technischen Problem begegnet. Er wackelte an dem Stecker, drehte ihn, zog ihn mehrmals aus dem Zigarettenanzünder und steckte ihn wieder hinein, einmal sanft, dann entschieden, manipulierte das Kabel vorsichtig in die eine und die andere Richtung, und blies in den Port seines Mobilphones. Ohne Erfolg. Schließlich gab er auf und stopfte das Kabel unaufgerollt zurück in die Ablage, was bei mir ein leichtes nervöses Zucken am rechten Augenlid verursachte, das ich aber relativ schnell unter Kontrolle hatte.

Scully merkte nichts, er konzentrierte sich nämlich auf die Wegbeschreibungen. Es waren sehr viele kleine Streckenabschnitte, die er langsam herunterscrollte. Dabei hielt er das Handy ganz still und betont wagerecht, auf die ihm so eigene, überraschend sanfte Art,  die man fast fühlen konnte, wenn man seinen Hände beim Arbeiten ansah. Scully, seines Zeichens Anwalt, war eigentlich Künstler.

Jetzt versuchte er, sich die Wegbeschreibungen einzuprägen, während er zugleich so vorsichtig über den Screen strich, als könne er den Handyakku durch eine Balance von sanfter Konzentration und Wunschdenken dazu überreden, länger zu arbeiten. Der Mensch ist ein archaisches Wesen, das kein Problem damit hat, gegen besseres Wissen zu denken und zu handeln und auch zu hoffen. 50 km später gewann die nüchterne Technik.

Scully konnte ausführlich  und eloquent fluchen, und das tat er erwartungsgemäß auch, als der Screen schwarz wurde. Ich trat kontrolliert auf das Gaspedal. Der Wagen beschleunigte ohne spürbaren Übergang. Wir befanden uns auf der gleichförmigen Ebene Nordfrieslands auf einer ziemlich kleinen Straße. Nach etwa 20 Sekunden besann sich Scully dann auf seine mentale Merkliste. Er sah suchend aus dem Fenster,  und ich fuhr wieder langsamer. Ziemlich zuversichtlich sagte er dann, fahr mal rechts , da vorne, an den Bäumen, rechts, (Sackgasse), etwas überrascht: ok, ok, dann am nächsten Abbieger, da hinten (unbefestigter Wirtschaftsweg). Dann erst begriff er, dass er es im “Flow” der Ereignisse, wie er es nannte, versäumt hatte, sich den letzten Standort auf der Karte zu merken. Ich war eine gute Schülerin. Ohne Standort war der ganze restliche Sermon  der auswendig gelernten Wegbeschreibung nutzlos. Die Schönheit von Google und GPS liegt in der Möglichkeit der Standortbestimmung. Die Schönheit des Reisens ohne GPS besteht im Verlorengehen.

Als Scully den USB Connector erneut in den Zigarettenanzünder steckte, und nochmals durch alle nutzlosen Manöver zu gehen drohte, welche er bereits zuvor ohne Erfolg versucht hatte,  fuhr ich zur Seite, hielt den Wagen an und stieg aus. Ich schloß die Fahrertür sachte hinter mir und machte ein paar Schritte in den frühen Abend hinein, der mich lauwarm und feucht empfing. Am Horizont verdichtete sich violettblauer Dunst zu Regenwolken. Auf den Feldern standen Schafe in gefälligen Abständen zueinander. Zwischen den Wolken leuchtete der Abendhimmel in hellgelben Streifen. Dort war Westen, dort lagen die Deiche und das Watt. Es war nicht mehr weit. Ich lehnte mich an die Kühlerhaube und sah dem Himmel beim Malen zu. In meiner Tasche steckten zwei Din-A 4-Zettel mit ausgedruckten Wegbeschreibungen.

the body is a house inhabited by a dream

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Our physical body, all flesh and blood, rhythm and heart beat, clockwork and sensory organs, defines the outer limits of where we are at this moment, gives the coordinates of our place in time. It also obeys the limits defined by space and time, it is as vulnerable as it is capable of adaption to a wide range of defining circumstances we perceive as exterior. What a strange thing it really is to behold: to see oneself directly, not mediated by a mirror or a picture taken, but to observe ones fingers, hands, arms, legs and feet in motion, knowing that this very motion has its source in the observing brain but can still be observed as if acting independently from that brain that, at the moment of observation, denies all knowledge of its own doing to itself, a great puppet master. 

 

Meditation

img_0303Für mich geht der Blick in die Tiefe des Universums einher mit der Erkenntnis grundsätzlicher Einheit und Leere. Nicht ein übergeordneter Weltengeist in unfassbarer Ferne, verborgen vor meinem Blick, sondern ein wirkendes Prinzip der Ordnung, dessen ich Teil bin. Separation ist Voraussetzung des Bewusstseins, Einsamkeit ist Folge der Separation, aber wenn ich meinen Verstand bemühe, so sehe ich mich in allen Dingen und alle Dinge in mir. Ich misstraue der Welt nicht, sie ist mir nicht unheimlich, und sie hat keinen Sinn, der mich versöhnen könnte. Aber ich bedarf der Versöhnung nicht. Ich fühle mich weder sicher, noch unsicher, weder geborgen, noch ausgesetzt, weder fair noch unfair behandelt. Ich bin wie der Wind über den Wassern, das Licht in den Zweigen, das Wispern in den Weiden. In mir wie in jedem Bewusstsein refraktiert sich das Bild der Welt, indem es entsteht, zeichnet es sich in einen leeren Horizont. Je klarer ich leuchte, desto einsamer bin ich, mein Verstand, mit Aristoteles, ist Licht im Dunkel, und es gibt keinen Weg zurück in die Höhle.

Scully kauft eine Wiese

Wir kauften ein kleines, überteuertes Stück Land von einem Bauern. Den Preis dafür hatte Scully über ebay ausgehandelt. Grünland. Das Land lag im Nirgendwo, nicht nahe der Küste, nicht an einem See oder am Waldesrand. Es war kein Bauland und würde, soweit es absehbar war und das deutsche Baurecht nicht drastisch geändert wurde, niemals Bauland sein. Es lag im Außenbereich unter einem niedrigen Himmel und war bar jeglichen Attributes, das es als attraktiv für auch nur entfernt touristische Zwecke zweier landhungriger Städter hätte geeignet erscheinen lassen, aber Scully lachte zufrieden, als der Notar uns nach der Beurkundung die Hand gab. Einige Wochen später waren wir im Grundbuch eingetragen, zu ideellem Miteigentum. Wir hatten eine Wiese gekauft, und einen Knick, der zu einer gut befahrenen Landstraße hin lag und im nächsten Frühjahr würde geschnitten werden müssen.
Der Winter war nass und warm gewesen und der Grund hielt jetzt so viel Wasser wie ein Schwamm, weil nichts mehr ablaufen konnte. In einer Senke ziemlich in der Mitte des Grundstücks hatte sich das Wasser an der Oberfläche gesammelt und einen kleinen Teich gebildet. Der Teich war im letzten Sommer nicht hier gewesen, als Scully das erste Mal über die Wiese gestiefelt und ich ihm wie ein kleiner Hund hinterher gehechelt war. Ja, das ist es, hatte er fachkundig festgestellt, genau hier muss es sein. Das war im Spätsommer gewesen, die Wiese war trocken gewesen und verkrautet und verwaist. Aber jetzt hatten wir auch einen Teich, jedenfalls vorübergehend, eine glatte Wasserfläche in der Geest, in der sich der Frühjahrshimmel spiegelte. Zu ideellem Miteigentum. Auf dem Teich schwammen zwei große Eiderenten, Somateria mollissima mollissima, die vielleicht Rast auf dem Weg zur Küste einlegten. Deshalb wirkte unsere Wiese jetzt nicht mehr so verwaist wie bei unserem ersten Besuch, und es war sehr hübsch, wie sich der Himmel in der Lache spiegelte, auch wenn von Zeit zu Zeit ein Lastwagen auf der östlichen Landstraße vorbeiknatterte.
Scully hatte den Wagen auf dem Wirtschaftsweg geparkt, wir waren ausgestiegen und hatten unsere Gummistiefel angezogen und Scully hatte mir die Thermoskanne in die Hand gedrückt und dann war es so weit gewesen: Wir schritten unsere Wiese ab, Scully mit dem schweren Schritt eines Grundbesitzers, der sein Land kennt, obwohl er in Hamburg-Altona in einer Zweizimmerwohnung lebte. Es war so: Scully schritt und ich machte einen Schritt, blieb stehen, sah mich um und hastete ihm dann hinterher, die Thermoskanne in der Hand, und so vermaßen wir die ganze Wiese, in der mein bescheidenes Erbe und sein Know-how steckten. Sein Wissen, mein Geld. Eine Wiese, auf der man nicht bauen konnte.
Als wir zum Gatter zurück kamen, reichte ich Scully die Thermos, er schraubte sie auf, goss etwas Tee in den Schraubdeckel, nahm zwei Schlückchen und reichte mir den Rest. Der Tee war schlierig und schwarz, wirklich schwarz, denn Scully machte keine halben Sachen. Der bittersüße Geschmack blieb einem noch lange im Mund, es war nicht jedermanns Sache. Weit entfernt von einem Flat White oder einem Cafe crema to go. Nichts für Anfänger. Der Tee belebte Tote.
Scully stand breitbeinig am Gatter und sah noch einmal sichtlich zufrieden über die Wiese. Wir brauchen ein Pferd, sagte er. Und noch eins zur Gesellschaft. Ich widersprach nicht. Es war noch etwas Geld auf dem Konto. Scully schien wie immer aus einer Eingebung zu sprechen, aber ich war mir sicher, dass er schon wusste, wo wir das Pferd, das er meinte, finden würden. Und eins zur Gesellschaft. Ein altes Pferd, für mehr reichte das Geld nicht. Oder ein lahmes. Oder ein altens und ein lahmes. Ich wusste nicht, weshalb wir ein Pferd brauchten und eins zur Gesellschaft, zu ideellem Miteigentum, aber wenn Scully es sagte, musste es so sein.